15. KAPITEL
Washington, D.C./Lost Lake, Kalifornien/ Alexandria, Virginia - 1986
Carl hatte die Frau am Samstag zuvor in einer Singlebar abgeschleppt. Sie war attraktiv, schüchtern und süß. Obwohl ihre Beziehung sich gut anließ, wusste Carl, dass sie nach einigen Monaten am Ende sein würde - wie immer. Normalerweise machten die Frauen Schluss, wenn sie es satt hatten, dass er stets plötzlich verschwand, seine Launen nicht mehr ertrugen oder unter seiner Unfähigkeit litten, echte Gefühle zu zeigen. Wann immer diese Frauen etwas Dauerhaftes wollten, zog Carl den Stecker. Sex ohne Verpflichtung dagegen erleichterte es ihm, wenigstens für kurze Zeit die Erinnerungen zu verdrängen, die sich immer häufiger in seine Gedanken schlichen.
Carl verabredete sich beim ersten Mal immer in einem ausgezeichneten vietnamesischen Restaurant am Dupont Circle. Er hatte gerade die junge Frau damit beeindruckt, dass er auf Vietnamesisch bestellte, als Vanessa Wingate am Arm eines Mannes herein schwebte, der direkt einem Hochglanzmagazin entsprungen zu sein schien.
»Entschuldigst du mich eine Minute?« fragte Carl seine Begleiterin. »Ich habe gerade eine alte Freundin gesehen, die ich schon seit Jahren nicht mehr gesprochen habe.«
Die Frau folgte Carls Blick. Sie lächelte und sagte: »Klar.«
Carl wusste, dass es ihr nicht gefallen würde, wenn er Vanessa zu viel Aufmerksamkeit schenkte.
Sekunden bevor er Vanessa erreichte, bemerkte sie, wie Carl sich den Weg durch die Menge bahnte. Sie hatten sich seit der Highschool nicht mehr gesehen, und zunächst spiegelte sich Verwirrung auf ihrem Gesicht, dann Verblüffung, und schließlich sah Carl das, was er erhofft hatte: ein herzliches Lächeln.
»Mein Gott!« stieß Vanessa hervor. Ihr Begleiter schaute sie an, folgte ihrem Blick und sah Carl.
»Vanessa.« Carl lächelte ebenso warm wie seine frühere Geliebte.
»Was machst du denn hier?«
»Ich lebe in Washington. Naja, eigentlich in Virginia. Lebst du hier, oder bist du nur auf Besuch?«
»Ich wohne in Georgetown.«
»Willst du mich nicht vorstellen?« Vanessas Begleiter vertrug es offensichtlich nicht, dass die beiden ihn einfach ignorierten.
»Entschuldigung. Bob Coyle, das ist Carl Rice, ein alter Freund.« »Angenehm.«
Coyles kräftiger Händedruck verriet Carl klar und deutlich, dass Coyle sich als Alphamännchen fühlte, das seine Gefährtin verteidigte. Carl ließ Coyle sein Territorium abstecken, indem er sich dem schmerzhaften Händedruck ergab. Er merkte, dass Vanessas Begleiter ihn schnellstmöglich loswerden wollte, und er hatte nicht die Absicht, ihr den Abend zu verderben.
»Ich bin mit jemanden hier«, erklärte Carl deshalb. »Aber ich würde gern über die alten Zeiten mit dir plaudern. Wie kann ich dich erreichen?«
Coyle verzog mürrisch das Gesicht, als Vanessa Carl ihre Telefonnummer gab.
»Nett, Sie kennenzulernen, Bob«, warf Carl hin, bevor er an seinen Tisch zurückkehrte. Sobald er sich gesetzt hatte, erklärte er seiner Begleiterin, dass Vanessa eine alte Freundin war. Die Frau akzeptierte diese Erklärung, und Carl faszinierte sie mit meist erfundenen Kriegsgeschichten, während er unaufhörlich an Vanessa dachte.
Vanessa saß an einem ruhigen Tisch im hinteren Teil eines Bistros, das nur ein paar Blocks von ihrer Wohnung in Georgetown entfernt lag. Sie trug einen braunen Hosenanzug und eine weiße Bluse. Sie sah hinreißend aus. Carl trug eine graue Hose, ein blaues Oxford-Hemd und einen Blazer. Sein Haar war zerzaust, und er wirkte eher aus wie ein junger Anwalt denn wie ein Militär. Als Carl den Tisch erreichte, stand Vanessa auf und umarmte ihn. Es war die Art von kurzer, sachlicher Umarmung, die man sich bei der Gastgeberin einer Cocktailparty abholt, die einen nicht besonders gut kennt. Carl folgerte, dass Vanessa den Schreck überwunden hatte, ihn aus dem Nichts auftauchen zu sehen, und sich an die Umstände ihrer Trennung erinnerte.
»Du siehst großartig aus!« erklärte er.
»Du auch. Machst du immer noch Karate?«
Er nickte. »Und du hast im College Tennis gespielt, richtig?«
»Das College ist schon sehr lange her, Carl. Ich habe damit angefangen, als du in den Krieg gezogen bist.«
Beim letzten Satz schwang eine gewisse Bitterkeit in Vanessas Stimme mit. Carl sah sie an.
»Die Army ist mir gut bekommen.« »Scheint so, wenn du noch dabei bist.«
Carl wechselte rasch das Thema. »Erzähl mir, was du in den letzten Jahren gemacht hast.«
Vanessa dachte einen Moment nach. »Ich glaube, das Größte war meine Ehe.«
»Der Mann aus dem Restaurant?«
Sie lachte. »Nein. Bob ist Anwalt und arbeitet für einen Kongressausschuss. Ich arbeite für einen Kongressabgeordneten. Bob habe ich vor einem Monat bei einer Anhörung kennengelernt.« »Also bist du nicht mehr verheiratet?«
Vanessa wurde ernst. »Es hat nicht funktioniert. Ich hätte es wissen sollen. Seine einzige Qualifikation war, dass der General ihn verachtete. Wir sind aus Trägheit jahrelang zusammengeblieben, aber die Ehe war schon vorbei, bevor sie richtig angefangen hat.«
»Am Telefon sagtest du, dass du wieder studierst?«
»Ja, ich arbeite tagsüber und gehe abends zur Uni und studiere Jura. Studieren das nicht alle Geschiedenen, nachdem ihre Ehe den Bach runtergegangen ist?«
»Tagsüber arbeiten und abends studieren muss sehr hart sein.«
»Es ist strapaziös, aber das Studium fällt mir leicht.«
»Du hast immer schon schnell gelernt«, meinte Carl. »Bis auf Differentialrechnung.«
Vanessa wirkte traurig. »Ja, bis auf Differentialrechnung. Und, was machst du in der Army?«
»Ich lehre Sprachen in Fort Meyer.«
»Ach ja? Welche Sprachen?«
»Vietnamesisch und Thai.«
»Ich glaube, ich kann mir denken, wo du sie gelernt hast.«
Carl senkte den Blick, als er antwortete, so wie er es einstudiert hatte.
»Ich habe in Vietnam einige schlimme Sachen erlebt. Es war eine harte Zeit. Als ich wieder in den Staaten war, hörte sich ein Job als Sprachlehrer ganz gut an.« Er lächelte. »Ich bin eigentlich froh, dass ich ihn angenommen habe. Ich unterrichte gern und habe gute Kontakte zu vielen Leuten von der Uni geknüpft. Wenn ich meinen Abschied nehme, bin ich noch jung und kann an vielen Orten unterrichten.«
»Das freut mich für dich.«
»Bist du glücklich, Vanessa?« »Das ist eine sehr persönliche Frage, Carl. Früher hätte ich dir eine Antwort darauf gegeben, aber das ist schon lange her. Ich glaube, jetzt kennen wir uns dafür nicht mehr gut genug.«
Carl hatte nicht erwartet, dass er noch so starke Gefühle für Vanessa empfand. »Ich weiß, dass ich dich verletzt habe, aber das ist schon lange her. Ich würde dich gern neu kennenlernen.«
»Du bist ja jetzt mit mir zusammen, stimmt's?« fragte sie.
Carl und Vanessa aßen ein oder zweimal im Monat in der Nähe des Bürogebäudes des Kongresses zusammen. Manchmal holte er sie auch abends von der Uni ab, und sie tranken einen Kaffee zusammen. Sie trafen sich jedoch eher unregelmäßig, und es waren auch mehr zwanglose Treffen als Verabredungen. Manchmal war Carl verlockt weiterzugehen, aber das Zusammensein mit Vanessa weckte Konflikte in ihm. Wenn sie zusammen waren, brannte er für sie, aber gleichzeitig kämpfte er mit seinem schlechten Gewissen, weil er ihr nicht erzählt hatte, dass er noch für ihren Vater arbeitete und sie außerdem über die wahre Natur seiner Arbeit im ungewissen ließ. Zudem hatte er das unangenehme Gefühl, dass er den General hinterging, weil er ihm nicht gesagt hatte, dass er sich mit seiner Tochter traf. Nicht, dass er viele Gelegenheiten gehabt hätte, mit Morris Wingate zu sprechen. Seitdem er der Einheit beigetreten war, hatte er Wingate nur noch selten gesehen. Der General hatte ihm erklärt, wie gefährlich es für jedes Mitglied der Einheit war, mit ihm gesehen zu werden. Es gab überall Spione.
Carl hatte eine Weile sogar mit dem Gedanken gespielt, die Einheit zu verlassen. Er riskierte nun seit mehr als zehn Jahren sein Leben, und vielleicht wurde er allmählich zu alt dafür. Wenn er jetzt aufhörte, konnte er einen Lehrauftrag an einer Universität bekommen. Vielleicht würde Vanessa ihn dann heiraten. Sie könnten sich irgendwo niederlassen, Kinder bekommen, und sie konnte ihren interessanten Beruf ausüben. Es wäre eine ruhige Existenz, aber Carl konnte sich vorstellen, sich an ein Leben mit zwei Kindern, einem Hund und einem Haus in der Vorstadt mit einem weißen Gartenzaun zu gewöhnen. Er redete sich sogar ein, dass er von der Hölle ins Paradies umziehen könnte, ohne dass Vanessa von seinem geheimen Leben erfuhr.
Das hartnäckige Klopfen an ihrer Wohnungstür riss Vanessa aus tiefstem Schlaf. »Ich komme ja schon!« rief sie, während sie sich ihren Morgenmantel überwarf. Als sie durch das Guckloch schaute, sah sie Carl Rice im Flur stehen. Seit fast drei Wochen hatte sie ihn nicht mehr gesehen oder mit ihm telefoniert.
»Bitte, Vanessa, mach auf!« bat Carl, nachdem er noch einmal geklopft hatte. Sie wollte nicht, dass er ihre Nachbarn weckte, also öffnete sie die Tür. Carl stolperte herein. Er war unrasiert, seine Kleidung sah aus, als hätte er darin geschlafen, und er hatte einen wilden Ausdruck in den Augen.
»Was willst du, Carl?« fragte Vanessa.
»Ich muss mit dir reden.«
»Jetzt? Es ist nach Mitternacht. Kann das nicht bis morgen warten?«
»Tut mir leid. Ich weiß, dass es spät ist, aber ich habe keine Ahnung, was ich tun soll.«
Vanessa schaute ihren Besucher scharf an. Carl wirkte eindeutig verzweifelt.
»Inwiefern?«
»Kann ich mich setzen?« fragte Carl. »Ich bin vollkommen fertig. Ich habe seit Tagen nicht mehr geschlafen.«
Vanessa trat zur Seite. Carl ließ sich auf die Couch fallen und legte den Kopf in den Nacken.
»Ich kann es nicht mehr«, sagte er. »Ich muss da raus.«
»Wo raus?« »Ich habe dich belogen«, erklärte er. »Ich konnte dir einfach nicht die Wahrheit sagen, also habe ich dich belogen, aber das will ich nicht mehr. Du sollst wissen, wer ich bin. Ich bin ein Killer. Ich morde für deinen Vater, und ich will damit aufhören.«
Vanessa stockte der Atem.
»Du bist die einzige Person, die das überhaupt verstehen kann«, sagte Carl.
»Was soll ich verstehen?«
»Ich habe schreckliche Dinge getan.«
»Und jetzt willst du von mir Absolution?«
»Dafür ist es längst zu spät.«
Vanessa bekam Angst. Ihr Vater hatte sie immer mit Allgemeinplätzen abgespeist, wenn sie wissen wollte, was die AIDC machte, und ihr nie erzählt, was er wirklich tat. Natürlich hegte sie einen Verdacht. Warum ließ er sich auf Schritt und Tritt von bewaffneten Leibwächtern begleiten?
»Ich war so glücklich, nachdem wir uns wieder getroffen haben«, erzählte Carl. »Ich dachte, ich könnte mit dir neu anfangen, doch fast alles, was ich dir erzählt habe, war gelogen. Dann haben sie mir einen neuen Auftrag gegeben. Es war schlimm, sehr schlimm. Ich will aufhören. Ich kann das nicht mehr machen.«
»Was hast du gemacht?«
»Ich bin nach Texas geflogen. Dort lebte eine Chinesin. Ihre Eltern sind nach Amerika eingewandert, als sie neun war. Sie hat an einem streng geheimen Projekt gearbeitet. Was es war, weiß ich nicht.« Vanessa registrierte, dass Carl von der Frau in der Vergangenheit sprach. »Man sagte mir, sie sei eine sehr gefährliche Spionin, die Geheimnisse an die Chinesen verriet. Die Chinesen hätten sie angeheuert. Sie sei eine Bedrohung für unser Land.« »Und du ... ?«
Carl zwang sich dazu, Vanessa anzusehen. Er hatte sich geschworen, ihr alles zu erzählen, und wollte nicht kneifen.
»Ich habe ihr in die Augen geschossen. Sie hat geschlafen. Ich bin in ihr Haus eingebrochen und habe sie beide getötet.«
»Da war noch jemand?«
Carl nickte. Seine Stimme brach. »Ihr Ehemann. Er war Captain in der Armee.«
»War er auch ein Spion?«
Carl schüttelte langsam den Kopf. »Sie sind sich nicht sicher, aber sie konnten das Risiko nicht eingehen, dass er mit ihr zusammenarbeitete. Das hat man mir jedenfalls erzählt.«
Carl brach in Tränen aus. »Er war ein Amerikaner, Vanessa. Vielleicht war er vollkommen unschuldig. Er war Captain, genau wie ich.«
»Captain? Du hast mir erzählt, du seiest Sergeant.«
»Das ist meine Tarnung. Genau wie mein Job an der Sprachenschule. Mein ganzes Leben ist eine Lüge.«
Carl ließ den Kopf sinken, schlug die Hände vor sein Gesicht und schluchzte. Was er Vanessa erzählt hatte, entsetzte sie, und sie brachte es nicht fertig, ihn zu trösten.
»Mein Vater hat dir deine Befehle gegeben?«
»Ich habe mehr als zehn Jahre für ihn gearbeitet.«
Vanessa sah ihn verwirrt an. »Die AIDC sammelt Geheimdienstdaten. Sie haben keine Agenten, die so etwas tun, was du machst.«
»Haben sie wohl, Vanessa, aber nur eine Handvoll Menschen wissen über meine Einheit Bescheid.«
Carl erklärte ihr, was er gemacht hatte, seit er von dem General rekrutiert worden war. Mit jedem seiner Worte wurde Vanessa wütender
»Dieser Drecksack!« zischte sie, als Carl fertig war. Ihre Augen glänzten. »Ist dir klar, was passiert, wenn wir ihn bloßstellen?«
»Denk nicht mal an so etwas! Dein Vater ist ein sehr gefährlicher Mann. Ich habe keine Ahnung, wie weit er gehen würde, wenn er dich für eine Gefahr halten würde.«
»Willst du mir nicht helfen? Willst du nicht endlich aufhören, seine Marionette zu spielen?«
»Ich will aufhören, aber ich will nicht, dass du stirbst. Dein Vater wird uns umbringen, wenn er sich bedroht fühlt. Was du vorhast, ist unmöglich. Es gibt keinen konkreten Beweis, dass diese Einheit existiert. Der General würde es abstreiten, ebenso wie jeder andere, der mit dieser Operation in Verbindung steht. Und wenn du doch zufällig Beweise finden würdest, dass diese Einheit existiert, würdest du jeden in Gefahr bringen, der davon weiß. Für diese Leute ist Mord eine Methode, ein Problem zu lösen. Ich bin einer von ihnen, Vanessa. Wir denken so. Wenn du ein Problem hast, und ein Mord löst dieses Problem, dann mordest du eben.«
Vanessa schwieg einen Moment. Dann sah sie Carl an.
»Was willst du jetzt machen?«
»Ich will meinen Abschied nehmen. Ich will zur Ruhe kommen.«
»Wird mein Vater dich gehen lassen?«
»Das weiß ich nicht, aber ich muss ihn fragen.«
Vanessa dachte einen Moment nach. »Das könnte sehr gefährlich sein, Carl. Mein Vater hasst Schwäche. Du weißt einfach zu viel und kannst ihm sehr schaden. Sobald er erfährt, dass du aussteigen willst, wirst du selbst zu einem Problem, das er lösen muss.«
Carl starrte Vanessa trübe an. »Das interessiert mich nicht mehr. Ich muss aufhören. Wenn er mich gehen lässt, habe ich es hinter mir. Wenn er mich tötet, auch.« Er lachte. »So oder so, ich kann nur gewinnen.«
Carl rief Vanessa an dem Abend an, nachdem er seine Entscheidung getroffen hatte. Es lief nur ihr Anrufbeantworter. Er versuchte es noch einige Male, aber Vanessa nahm nicht ab. Am nächsten Tag versuchte Carl es bei ihrer Arbeit und erfuhr, dass sie nicht da war. Sie tauchte auch an ihrer Universität nicht auf. Carl fragte sich, ob Vanessas Wohnung abgehört wurde. War sie vielleicht seinetwegen umgebracht worden? Er fuhr zu ihrer Wohnung. Dort war alles dunkel. Er öffnete das Schloss und trat ein. Sie war nicht da, und auf ihrem Anrufbeantworter häuften sich die Nachrichten.
Am nächsten Abend bekam Carl einen Anruf von einem Meinungsforschungsinstitut. Er hatte noch nie so rasch nach seiner Rückkehr von einem Auftrag einen neuen erhalten, aber der Anruf signalisierte ein neues Treffen. Fünf Stunden, nachdem er die Nachricht entschlüsselt hatte, parkte er vor dem Zimmer 105 eines Motels in einem Außenbezirk von Baltimore. Carl erwartete General Peter Rivera vorzufinden, aber der Raum war leer. Ein heftiger Schneesturm tobte sich über der Ostküste aus, so dass seine Verspätung durch die Wetterbedingungen zu erklären war.
Carl warf seine grüne Jacke und die Strickmütze auf das Bett und ging ins Bad. Dann brühte er sich einen Kaffee in dem Topf auf, den das Motel in jedem Zimmer zur Verfügung stellte. Während der Kaffee sich setzte, überlegte er, was er tun sollte, falls Rivera einen Auftrag für ihn hatte, bei dem er einen Mord begehen musste. Noch bevor er sich eine Strategie ausdenken konnte, öffnete sich die Tür. Carl zog seine Waffe und drückte sich an die Badezimmerwand. Er konnte die Eingangstür im Spiegel über dem Waschbecken sehen. Der starke Wind fegte Schneeflocken ins Zimmer. Ein Mann kam herein. Er war zu groß für Rivera. Sein Gesicht wurde von dem aufgestellten Kragen seines Mantels verborgen.
»Die Steuerzahler müssen für diese Kugeln gerade stehen, Carl«, sagte Morris Wingate. »Verschwenden Sie sie nicht!«
Carl schob seine Waffe in das Halfter und trat mit zwei Kaffeebechern in der Hand ins Schlafzimmer.
»Heiß genug für Sie?« erkundigte er sich beiläufig, als er dem General einen Becher reichte.
»Heiß genug«, erwiderte Wingate und trampelte sich den Schnee von den Schuhen.
»Ich habe versucht, Sie anzurufen«, erklärte Carl.
»Ich war unterwegs.« Carl war klar, dass er keine weitere Erklärung bekommen würde. Der General setzte sich in den einzigen Sessel des Zimmers und wärmte seine Hände an dem Kaffeebecher. Carl zog den Schreibtischstuhl heraus und stellte seinen Becher auf die Schreibunterlage. Dann zwang er sich, Wingate anzusehen, als er zur Sache kam.
»Ich denke darüber nach, den Dienst zu quittieren.«
»Hat das etwas mit Vanessa zu tun?«
Carl war darauf trainiert, seine Gefühle zu verbergen, aber diesmal ließ seine Ausbildung ihn im Stich.
»Sie sind sehr wichtig für uns, Carl. Wir behalten Sie natürlich im Auge.«
Carl fühlte sich elend.
Der General schüttelte traurig den Kopf. Als er sprach, klang er nicht wütend, sondern nur traurig und enttäuscht.
»Ich wünschte, Sie hätten sich mir vorher anvertraut. Sie wissen, dass Sie und Vanessa mir viel bedeuten.«
Carl schwieg, weil ihm unklar war, wie viel Wingate wusste.
»Haben Sie Ihr gesagt, was Sie tun?« erkundigte sich der General
Carls Gedanken überschlugen sich, als er die richtige Antwort suchte. Falls Wingate seine Beichte belauscht hatte, konnte eine Lüge das Todesurteil für ihn und Vanessa bedeuten. Allerdings konnte das ebenfalls passieren, wenn Wingate nicht wusste, was Carl seiner Tochter erzählt hatte, und er dem General nun reinen Wein einschenkte.
»Ich habe Ihr nichts von der Einheit gesagt, und das habe ich auch nicht vor«, log er. »Wir wissen beide, wie sie dann reagieren würde.«
Wingate nickte. »Warum haben Sie sich entschlossen, Ihre Karriere aufzugeben?«
Carl blickte auf seine Hände. »Ich lasse nach. Ich bin ausgebrannt.«
»Sie sollten in Ruhe darüber nachdenken. Sie sind auf dem Weg nach oben, Carl. Sie werden die Karriereleiter hinaufklettern, wenn Sie beim Militär bleiben. Es gibt da einflussreiche Leute, die Großes mit Ihnen vorhaben. Versprechen Sie mir, nicht überstürzt zu handeln?«
»Ich werde keine übereilte Entscheidung treffen, Sir«, lenkte Carl ein.
»Gut, denn ich habe eine wichtige Aufgabe für Sie.« Das überraschte Carl. Normalerweise instruierte ihn General Rivera. »Wenn Sie diese Mission erledigt haben, nehmen Sie Urlaub und finden heraus, was Sie mit Ihrem Leben anfangen wollen. Ich werde Ihre Entscheidung hundertprozentig unterstützen, ganz gleich, wie sie ausfällt.«
Wingate öffnete den Aktenkoffer, den er bei sich hatte. Darin befand sich Bargeld, ein falscher Pass, eine Waffe und andere Dinge, die Carl bei einem Auftrag brauchte. Der General reichte ihm einen dünnen Ordner. Darin befand sich das Foto eines gutaussehenden Mannes mit zerzaustem Haar, der vor einem Bürogebäude stand. Er kam Carl vage bekannt vor.
»Wer ist das?« »Das brauchen Sie nicht zu wissen.«
Carl war verwirrt. General Rivera hatte ihm immer die Namen der Zielpersonen einer Operation genannt.
»Das ist ungewöhnlich, Sir.«
»Stimmt.« Wingate schob das Foto zur Seite und schlug eine Landkarte auf.
»Lost Lake ist eine wohlhabende Gemeinde mit Sommerhäusern in Nordkalifornien.« Wingate deutete auf eine rot umrandete Stelle. »Ihre Zielperson lebt hier. Sie können das Grundstück mit einem Boot erreichen.« Der General schob Carl einen Papierstreifen zu. »Das ist der Sicherheitscode. Die Zielperson dürfte heute Nacht allein sein.«
»Was soll ich tun?«
»Sie erledigen den Spion eines ausländischen Geheimdienstes. In seinem Besitz befinden sich die militärischen Unterlagen jedes Mitgliedes unserer Einheit, einschließlich Ihrer Unterlagen.«
»Wie...?«
»Ich habe nicht das Recht, Ihnen das zu sagen, aber Sie können sich vorstellen, was passiert, wenn eine uns nicht eben freundlich gesonnene Macht zum Beispiel Ihre Identität herausfindet. Ich will diese Unterlagen wiederhaben. Die Existenz der Einheit steht auf dem Spiel. Wenn Sie die Unterlagen haben, möchte ich, dass Sie diesen Mann eliminieren. Und zwar so brutal und drastisch wie möglich.«
Carl war überrascht. Normalerweise wurde ein Mord so schnell und reibungslos wie möglich ausgeführt.
»Darf ich fragen, Sir, warum die Zielperson auf diese Art und Weise eliminiert werden soll?«
»Ich pflege meine Befehle nicht zu erklären, Carl. Sie dürfen davon ausgehen, dass es gute Gründe für alles gibt, was ich anordne.« Der General stand auf. »Sie fliegen sofort los. Am Flughafen wartet ein Wagen auf Sie. Bringen Sie mir diese Papiere. Vergessen Sie nicht, dass die Existenz der Einheit von Ihnen abhängt.«
Das normale Prozedere bei einer Mission sah eine ausführliche Instruktion und genug Zeit zur Vorbereitung vor. Diesmal flog Carl nur mit den spärlichen Informationen nach Westen, die Wingate ihm im Motel gegeben hatte. Er landete nach Einbruch der Dunkelheit auf einem winzigen Flughafen in Kalifornien. Kurz vor zwei Uhr morgens ankerte er mit einem Rennboot kurz vor einem flachen Strand, der vor dem Haus der Zielperson durch Bäume abgeschirmt wurde. Carl arbeitete sich durch das Wäldchen, bis er die Rückseite eines modernen Blockhauses sehen konnte. Alles war dunkel. Er überquerte rasch den Rasen. In seiner dunklen Kleidung, der Tarnfarbe und der dunkelblauen Strickmütze war er kaum zu erkennen.
Carl öffnete das Schloss, tippte den Sicherheitscode ein und war nach einigen Sekunden im Inneren des Hauses. Er hatte sich auf dem Flug den Grundriss des Hauses eingeprägt und wusste, wo die Treppe zum Schlafzimmer lag. Der Mann in dem breiten Doppelbett lag auf der Seite zusammengerollt und schlummerte friedlich. Er riss entsetzt die Augen auf, als Carl ihm ein Klebeband über den Mund presste. Carl setzte ihn mit einem gezielten Schlag außer Gefecht und fesselte ihm Hände und Knöchel. Als er fertig war und der Mann aus seiner Ohnmacht erwachte, zeigte Carl ihm ein großes Jagdmesser mit einer gezackten Klinge. Ein Skalpell war zwar leichter und einfacher zu handhaben, aber er benutzte das große Messer, um seinem Opfer Angst einzuflößen.
»Ich will die Armyunterlagen, die Sie gestohlen haben. Geben Sie sie mir, und ich lasse Sie am Leben«, log er. »Weigern Sie sich, leiden Sie, bis Sie zerbrechen. Das tut am Ende jeder.«
Die Brust des Mannes hob und senkte sich hastig unter seinen angstvollen Atemzügen. Er schwitzte, und seine Muskeln zuckten unwillkürlich
»Ich werde jetzt das Klebeband entfernen. Sie bringen mich dorthin, wo wir suchen müssen. Wir gehen zusammen. Wenn Sie gelogen haben, schneide ich Ihnen Ihr linkes Auge heraus.«
Carl zog das Band ab. »Sie machen einen Fehler ...!« keuchte der Mann.
Noch bevor der Mann den Satz zu Ende sprechen konnte, presste Carl das Band wieder über dessen Mund, riss dessen Pyjamajacke auf und schnitt ihm ein Stück Haut aus der Brust. Der Mann kniff die Augen zu, stöhnte dumpf und wand sich hin und her, als er versuchte, den Schmerz zu lindern. Carl empfand normalerweise nichts in einer solchen Situation, aber diesmal fühlte er sich elend. Er schwor sich, dass dies seine letzte Mission sein würde.
»Wir versuchen es noch einmal. Ich frage Sie nach den Papieren, und Sie geben sie mir. Mehr will ich nicht von Ihnen. Vergessen Sie den Schmerz nicht, den Sie eben erlitten haben, denn das war der letzte Schmerz, den Sie noch ertragen konnten. Jedes Mal, wenn Sie meine Instruktionen nicht befolgen, werde ich die Schmerzen steigern. Ich habe alle Zeit der Welt. Verschlimmern Sie Ihr Leiden nicht unnötig! Wenn ich jetzt das Klebeband entferne, sagen Sie mir, wo ich die Unterlagen finde!«
»Sie sind unten in meinem Büro«, keuchte der Mann, als Carl das Band abzog. Carl hoffte, dass er die Wahrheit sagte. Er wollte diese Mission beenden. Er presste erneut das Klebeband über den Mund des Mannes, obwohl sie so weit von den nächsten Nachbarn entfernt waren, dass niemand seine Schreie hören würde, aber er wollte kein Risiko eingehen. Er half seiner Zielperson auf die Beine, zerschnitt seine Fußfesseln und stützte ihn, als sie die Treppe nach unten gingen. Der Mann blutete heftig aus seiner Brustwunde, und der Schmerz ließ ihn taumeln. Als sie das Büro erreichten, schaltete Carl das Licht an. Dann band er die Zielperson an einen ledernen Schreibtischstuhl und zog ihm das Klebeband vom Mund
»Wo sind die Unterlagen?«
Der Mann gab ihm die Kombination eines Wandsafes. Carl öffnete den Safe und nahm einen Stapel Dokumente heraus. Es dauerte nur einen Moment, dann hatte er die Unterlagen gefunden.
Carl zog das Messer. Wingate wollte, dass es ein blutiger Mord wurde, und er würde dem Befehl des Generals dieses letzte Mal gehorchen. Er führte einige Schnitte aus und arbeitete so schnell, dass sein Opfer nicht lange leiden musste. Dabei versuchte er, dem sich heftig wehrenden Mann nicht ins Gesicht zu sehen. Als er das Gefühl hatte, dass der Körper nun misshandelt genug aussah, erlöste er den Mann mit einem kurzen Schnitt durch die Kehle. Seine Hände zitterten, als er den tödlichen Schnitt ansetzte, und ihm stiegen die Tränen in die Augen. Dann hörte er hinter sich ein Geräusch und wirbelte herum, das Messer in Kampfhaltung.
»Carl?«
Vanessa Wingate stand in der Tür. Sie trug ein langes, weißes T-Shirt, ihr Haar war vom Schlaf zerzaust. Sie starrten sich einen Moment an, bevor Vanessas Blick auf den Mann im Stuhl fiel. Während sie langsam zurückwich, ließ sie Carl keine Sekunde aus den Augen. Er wusste, dass er sie packen sollte, aber das Entsetzen in ihrer Miene paralysierte ihn. Vanessa rannte durch den Flur und in die Nacht hinaus. Bei jeder anderen Mission hätte Carl eine flüchtende Zeugin verfolgt und sie ebenfalls zum Schweigen gebracht, doch diesmal konnte er nur zu seinem Boot laufen. Er rannte über den Rasen, als Vanessa anfing zu schreien.
Der Fahrer des Generals brachte Carl vom Flughafen zu Wingates Haus in Alexandria, Virginia. Carl war am Rande seiner Beherrschung, als man ihn in das Arbeitszimmer führte
General Wingate saß am Kamin und las. Als Carl hereinkam, stand er auf.
»Haben Sie die Unterlagen?« fragte er besorgt.
»Wen habe ich umgebracht?«
Der General musterte ihn einen Augenblick. »Ist etwas vorgefallen?«
»Wen habe ich umgebracht?«
Wingate seufzte. »Einen Kongressabgeordneten. Sie werden darüber in den Zeitungen lesen. Morgen.«
»Wie lautete sein Name?« Carl stellte die Frage, obwohl er sicher war, dass er ihn schon kannte.
»Eric Glass.«
Carl starrte den General an. »Sie haben mich benutzt.«
»Wovon reden Sie da, Mann?«
»Vanessa war da, Sie Dreckskerl! Sie war im Haus!«
»Es ist nicht so, wie Sie denken.«
»Dann erklären Sie mir die Situation, General, denn ich bin ein wenig verwirrt. Zum ersten Mal geben Sie statt Peter Rivera mir einen Auftrag. Zufällig betrifft dieser Auftrag Ihre Tochter und den Mann, für den sie arbeitet. Außerdem muss ich zum ersten Mal einen Mann so brutal wie möglich ermorden. Haben Sie mich benutzt, um sich an Glass zu rächen, weil er mit Ihrer Tochter schläft?«
»Sie haben recht. Glass und Vanessa haben eine Affäre, aber deshalb musste Glass nicht sterben. Es gibt eine einzige Liste mit den Namen der Männer unserer Einheit. Sie lag sicher im Safe meines Arbeitszimmers in Kalifornien. Glass ist ein Schläfer, ein versteckter Agent. Er hat Vanessa verführt und sie dazu gebracht, die Unterlagen zu stehlen. Sie hat es getan, weil sie mich hasst. Sie will mich vernichten, und sie glaubte, dass Glass ihr dabei helfen könnte. Sie wusste nicht, dass er ein Spion war
Sie dachte, er würde einen Untersuchungsausschuss einberufen und mich und die Einheit bloßstellen.«
»Warum haben Sie mir nicht gesagt, dass Vanessa in seinem Haus ist?«
»Weil ich es nicht wusste. Ich hätte Sie niemals dorthin geschickt, wenn ich das vermutet hätte. Deshalb habe ich Ihnen auch den Namen des Mannes nicht genannt, den Sie eliminieren sollten. Ich weiß zwar, dass Sie Glass nie begegnet sind, aber Sie wussten, dass Vanessa für ihn arbeitet.«
»Warum haben Sie mich überhaupt dorthin geschickt?«
»Weil Sie der Beste sind, den ich habe, und dieser Auftrag der wichtigste war, den ich jemals erteilt habe.«
Carl ging zu einem Lederarmsessel vor dem Kamin und setzte sich. Er fühlte die Hitze auf seinem Gesicht, während er in die Flammen starrte.
»Sie hat mich gesehen. Sie weiß, was ich getan habe.«
»Das ist ein Problem, aber damit werde ich fertig. Ich habe einen Anruf aus Lost Lake bekommen. Vanessa steht unter Schock und liegt im örtlichen Krankenhaus. Ich fliege dorthin, sobald wir hier fertig sind. Ich wollte persönlich mit Ihnen reden, wenn Sie kommen. Der Sheriff hat mir erzählt, dass Vanessa Sie identifiziert hat.«
»Was mache ich jetzt? Wenn ich nach Fort Meyer zurückkehre, wird man mich verhaften.«
»Das ist richtig. Die Polizei sucht bereits nach Ihnen. Ich bin sicher, dass sich auch das FBI bald einschalten wird, aber ich habe bereits eine Lösung. Ich werde Sie irgendwohin schicken, wo niemand nach Ihnen suchen wird.«
Carl schaute hoch. »Wo ist das?«
»Wir haben Nachrichten bekommen, dass vermisste amerikanische Soldaten in einem geheimen Lager im nordvietnamesischen Dschungel gefangen gehalten werden. Ich schicke alle Mitglieder der Einheit dorthin, um sie zu retten.«
Die Chance, die übrigen Mitglieder der Einheit wiederzusehen, lenkte Carl ab. »Was passiert, wenn ich zurückkomme?«
»Carl, ich liebe Sie wie einen Sohn. Ich möchte Sie beschützen. Ich habe auch schon einige Ideen, wie ich das bewerkstelligen könnte, aber ich weiß noch nicht, ob sie auch funktionieren. Falls nicht, müssen Sie untertauchen. Wenn Sie zurückkommen, sind Sie ein wohlhabender Mann mit einem neuen Leben und einem neuen Gesicht. Und jetzt geben Sie mir bitte die Unterlagen.«